Vom Ihr zum Wir! Integration durch Sport
Wir sind sehr stolz, neuer „Anerkannter Stützpunktverein Integration durch Sport“ zu sein. In der aktuellen April-Ausgabe von „SPORT in BW“ sind Athi Sananikone und Jens Rückert (beide TV 1864) mit Luise Fleisch (Badischer Sportbund) im Gespräch zur aktiven und gelebten Integration durch Sport im TV Schwetzingen 1864 (Seite 29+30). Viel Spaß beim digitalen Lesen!
https://www.badischer-sportbund.de/epaper/sport-in-bw/SiBW_2023_04/epaper/SiBW_2023_04_BSB_Nord.pdf
Text und Foto: Luise Fleisch/BSB
„In der dauerhaften thematischen Auseinandersetzung mit Integration, bist du nie wirklich am Ziel.“ Was auf den ersten Blick wie Resignation wirkt, meint Jens Rückert, Vorstandsmitglied und Ressortleiter für Inklusion und Integration des TV Schwetzingen 1864, durchweg positiv: „Das ist nicht wie ein normales Projekt, das man nach einem bestimmten Schema bearbeiten und irgendwann abschließen kann. Integration in all seinen Facetten, komplexen Herausforderungen und vielschichtigen Aufgaben ist immer dynamisch und genau das macht die tägliche Integrationsarbeit im Sportverein so spannend.“
Als neuer Stützpunktverein des Bundesprogramms „Integration durch Sport“ im Badischen Sportbund Nord, berichten Jens Rückert und Athi Sananikone, Vorsitzender des TV Schwetzingen 1864, vom inklusiven und integrativen Engagement ihres Sportvereins und machen dabei deutlich, dass eine erfolgreiche Integrationsarbeit nicht nur auf dem Sportplatz oder in der Halle stattfinden sollte, sondern zentrales Thema einer fortschrittlichen Vereinsentwicklung sein muss, die durch Austausch und Vernetzung mit vielen Akteur*innen und externen Partnern realisiert wird.
Facetten der Integration
Integrationsarbeit im Sportverein zielt in erster Linie auf Vereinsmitglieder mit Flucht- und/oder Migrationshintergrund ab, denen durch ansprechende Angebote die Teilhabe am Sport und der Gesellschaft ermöglicht werden soll. So bietet der TV Schwetzingen 1864 von und für geflüchtete Frauen aus der Ukraine verschiedene Sportkurse an, wie beispielsweise ein wöchentliches Fitness-Training, durch das den Frauen einerseits der Zugang zum Sport (wieder) ermöglicht und andererseits der Austausch untereinander gefördert werden soll. Eine ehrenamtlich engagierte Ukrainerin, die mit ihrer Familie schon seit Jahren in Schwetzingen lebt, hilft hierbei als Übersetzerin bei sprachlichen Barrieren und begleitet bei Bedarf die geflüchteten Frauen und ihre Kinder auf allen möglichen (nötigen) Amtswegen.
Besonders stolz ist der TV Schwetzingen 1864 auch auf die gerade vereinbarte städte- und vereinsübergreifende Kooperation mit dem TV 1880 Käfertal, durch die ein neues Cricket-Angebot im Verein zukünftig entwickelt und dauerhaft etabliert wird. Cricket ist in vielen Commonwealth Staaten eine der beliebtesten Sportarten. Ein Cricket-Spiel der deutschen Nationalmannschaft erzielte in Streams über 25 Millionen Zuschauer*innen, die sich aus Indien, Pakistan, Bangladesch, Südafrika oder England zuschalteten. „Diese globale Sportart ist dementsprechend besonders attraktiv für Zielgruppen, die häufig übersehen werden“, führt Athi Sananikone aus. „Es gibt sehr viele Menschen, die aus Indien oder Pakistan nach Deutschland kommen. Sie leben hier, arbeiten in festen Jobs, haben Familie und suchen genauso wie jede*r andere auch Anschluss am gesellschaftlichen Leben. Ein entsprechendes Sportangebot, wie beispielsweise Cricket, das sich in den jeweiligen Heimatländern großer Beliebtheit erfreut, ist ideal, um genau diese Personen anzusprechen und ihnen den Zugang zum Sport zu ermöglichen.“
Gleichzeitig berichtet Athi Sananikone auch von einer weiteren Facette der Integrationsarbeit im Sportverein, die über die Mitgliedergewinnung hinausgeht: „Personen mit Flucht- oder Migrationshintergrund auf dem Spielfeld begrüßen zu können, ist das eine, der Weg dahin, bis dieses Angebot geschaffen und umgesetzt wird, das andere. Unsere regionalen Kooperationspartner im Cricket kommen vornehmlich aus Indien. Das durchorganisierte Vereinsgefüge und die deutsche Bürokratie waren und sind für sie an der einen oder anderen Stelle, berechtigterweise, etwas undurchschaubar. Das war für uns auch eine neue und bereichernde Erfahrung, das deutsche Sport-System zu erklären und dabei festzustellen, dass es tatsächlich für jemanden, der nicht damit sozialisiert wurde, zuweilen schwer nachvollziehbar ist.“
Unterschiedliche Werte als Herausforderung
„Bei unserem integrativen Engagement sehen wir uns auch ab und an mit der Herausforderung konfrontiert, verschiedene Werteverständnisse miteinander zu vereinbaren“, berichtet Jens Rückert. Nach der „Interkulturellen Woche“ der Stadt Schwetzingen fand Ende September 2022 das erste Cricket-Probetraining des Teams der Religionsgemeinschaft „Ahmadiyya Muslim Jamaat“ aus Schwetzingen, Eppelheim und Heidelberg auf der Sportanlage Sternallee des TV Schwetzingen 1864 statt. „Der Islam spielt in der internen und externen Kommunikation der Mannschaft eine große Rolle. Dadurch können unterschiedliche Wertevorstellungen aufeinandertreffen. So kann es sein, dass einer Frau bei der persönlichen Begrüßung nicht die Hand gegeben wird, was nach unserem kulturellen Werteverständnis als unhöflich angesehen wird. Dass damit aber oft genau das Gegenteil gemeint ist, nämlich ein Ausdruck von Respekt durch die Vermeidung von direktem Körperkontakt, ist vielen häufig gar nicht bewusst. Es gibt diese kulturellen Unterschiede und es wäre falsch und geradezu anmaßend, diese unreflektiert von vornherein zu verurteilen. Wichtig ist eine offene Kommunikation, um das gegenseitige Verständnis zu fördern aber auch, um allgemeingültige Regeln im persönlichen Umgang miteinander zu finden. Der strukturelle Rahmen für dieses interkulturelle Regelwerk wird durch eine klare Positionierung und formelle Verankerung in der Vereinssatzung festgelegt.“ Jens Rückert und Athi Sananikone machen deutlich, dass ein Sportverein sich beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Wertehaltungen nicht aus der sozialen Verantwortung ziehen kann und darf. „Wir stehen in unserem Vorstand, Sportrat und allen Abteilungen auch für bestimmte Leitsätze und tatsächlich gelebte Werte, die wir im Gesamtverein vorgeben und öffentlich kommunizieren. Das hat dann auch zur möglichen Konsequenz, dass wir Personen, die sich mit diesen Werten und Leitsätzen nicht identifizieren wollen, auch nicht weiter bei uns trainieren lassen können“, macht Athi Sananikone klar. „Niemand darf bei uns aus religiösen, ethnischen, politischen oder sozialen Gründen ausgeschlossen werden. Es bedarf klarer Regeln, an die wir uns alle zu halten haben, um eine tatsächliche Gleichbehandlung herzustellen und niemanden auszuschließen.“
Das Fingerspitzengefühl bei integrativen Maßnahmen
Ein besonderes Leuchtturmprojekt und absolutes Highlight-Event ist der regelmäßig stattfindende inklusive und integrative „Open Sporty Sunday“ von TV Schwetzingen 1864 und HG Oftersheim/Schwetzingen. Seit Oktober 2021 öffnen sich an einem Sonntagnachmittag im Monat für zwei Stunden die Türen der Sporthalle des Hebel-Gymnasiums in Schwetzingen. Dort erwarten alle teilnehmenden Kinder von sechs bis 12 Jahren mit und ohne Handicap eine abwechslungsreiche Bewegungslandschaft mit vielen Turngeräten, eine breite Palette unterschiedlicher Ballspiele zum Ausprobieren sowie ein Court für Para Boccia, Rollstuhl Basketball und Rugby – das gesamte Sportprogramm individuell betreut von zahlreichen Coaches.
„Das sind auch immer sehr emotionale Veranstaltungen“, freut sich Jens Rückert. „Wir haben hier viele verschiedene Nationalitäten versammelt, unter anderem aus Dänemark, Italien, Portugal, Türkei, Serbien, Ukraine, Eritrea und Indien. Immer mal wieder muss ich mir vor Freude und Rührung eine kleine Träne wegdrücken. Es ist kunterbunt und wuselt in der gesamten Halle, aber genau das ist Sport für Kinder in seiner ursprünglichen Form. Ohne überflüssigen Leistungsdruck und konkurrierenden Wettbewerb, einfach nur der pure Spaß an der gemeinschaftlichen Bewegung in einem respekt- und verständnisvollen Umgang.“
Der „Open Sporty Sunday“ erfreut sich weiterhin und zunehmend großer Beliebtheit – das zeigen die stetig ansteigenden Anmeldezahlen von begeistert teilnehmenden Familien aus der gesamten Region. Athi Sananikone betont dabei, dass bei gut laufenden integrativen und inklusiven Maßnahmen in jedem Fall auch ein gewisses Fingerspitzengefühl erforderlich ist. „Wir sind bestrebt, den Verein als Gesamtprojekt zusammenzuschweißen. Das heißt, wenn wir spezielle Angebote umsetzen wie den ‚Open Sporty Sunday‘, laden wir alle Abteilungen unseres Vereins ein, sich mit Ideen und eigenen (Sport-)Angeboten aktiv und thematisch mit einzubringen. Man darf bei all den guten und integrativen Ideen die bereits bestehenden Ressourcen und schon etablierte sehr erfolgreiche Arbeit, die in den Abteilungen seit vielen Jahren geleistet wird, nicht vergessen und muss hierfür eine verdiente Wertschätzung und entsprechende Dankbarkeit spürbar zum Ausdruck bringen.“
Umgang mit Kritiker*innen
Der TV Schwetzingen 1864 ist durch seine inklusiven und integrativen Angebote und Maßnahmen mittlerweile auch weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Das heißt jedoch nicht, dass dieses soziale Engagement, immer auf ungeteilte Zustimmung stößt. Vereinzelt gibt es auch vereinsintern kritische Stimmen. Jens Rückert erklärt: „Wenn zum Beispiel einzelne Wartelisten für stark nachgefragte Sportangebote oder Trainingsgruppen gerade nach der scheinbar überwundenen Corona-Krise überlang sind, ist die Frage, warum wir an der einen Stelle vieles ermöglichen, woanders aber die Bremse ziehen, in jedem Fall legitim und absolut berechtigt. Hier müssen wir plausibel erklären, dass wir uns in diversen organisatorischen Pilotphasen befinden und die neu geschaffenen Angebote möglichst zeitnah in den regulären operativen Spiel- und Vereinsbetrieb übergehen werden. Zum bereits Bewährten kommen sinnvolle Ergänzungen mit allgemeinem Mehrwert hinzu, die miteinander verbunden sind und gemeinsam erfolgreich wachsen können.“
Auch mit externen Kritiker*innen sahen und sehen sich Athi Sananikone und Jens Rückert konfrontiert. Athi Sananikone berichtet: „In der jüngeren Vergangenheit kam es schon vor, dass der Vereinsvorstand eindeutige E-Mails erhielt, in denen unser integratives und inklusives Engagement für nicht gut befunden wurde. Wir machen uns jedoch stark und wollen für alle eine herzliche Willkommenskultur schaffen und Orte, die zum Mitmachen und Wohlfühlen einladen. Die gemeinsame Freude und Begeisterung für Bewegung und Sport ohne vorweggenommene Be- und Verurteilung steht dabei im Vordergrund.“ Durch seinen eigenen Migrationshintergrund ist Athi Sananikone sehr daran gelegen, im Verein eine Philosophie zu leben, die frei von Diskriminierung und Rassismus ist und durch die allen Sportler*innen völlig unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht und sozioökonomischen Status die Teilhabe am sportlichen und gesellschaftlichen Leben ermöglicht.